Psychische Flexibilitaet | Irene Rah Psychologin M. Sc. Psychologin Oberhaching

Psychische Flexibilität – wozu und wie überhaupt?

Psychische Flexibilitaet | Irene Rah

Psychische Flexibilität bedeutet, im jetzigen Moment präsent sein, sich für seine Gedanken und Emotionen zu öffnen und tun was wichtig ist!

Steven C. Hayes

Unsere Gedanken und Emotionen laufen meist im Autopiloten ab. Wir glauben dann unseren Glaubenssätzen und lassen uns von unseren inneren Antreibern gerne herumscheuchen. Unser Gehirn hat außerdem die Tendenz zur Inflexibilität, indem es versucht, so schnell wie möglich zu kategorisieren gut/schlecht, entweder oder, schwarz/weiß, Feind/Freund. In der Steinzeit, in der wir innerhalb Sekunden entscheiden mussten, ob wir in Gefahr sind, hat dieser überlebensnotwendige schnelle Gedankenprozess auch Sinn gemacht.

In der jetzigen Zeit stehen wir aber selten vor lebensbedrohlichen Gefahren sondern vor Problemen und Entscheidungen, die nicht so leicht zu kategorisieren sind. Diese sind meist geprägt von Komplexität, Unübersichtlichkeit und Unsicherheit.

Um mit dieser Art von Herausforderung effektiv umgehen zu können ist eine wichtige Ressource und Fähigkeit „psychisch flexibel“ reagieren zu können und zwar im jetzigen Moment.

Denn etwas bewirken, verändern, handeln, reagieren, fühlen und denken können wir immer nur im jetzigen Augenblick.

Oft sind wir mit unseren Gedanken aber in der Vergangenheit oder in der Zukunft. Dies ist auch völlig sinnvoll, wenn wir uns z.B. Ziele für die Zukunft setzen, wir uns auf etwas freuen, aus Erfahrungen in der Vergangenheit lernen oder uns eine schöne Erinnerung ein Lächeln ins Gesicht zaubert.

Wenn uns aber Gedanken durch bestimmte Erfahrungen aus der Vergangenheit blockieren, wir Glaubenssätzen und inneren Antreibern unreflektiert glauben und uns Zukunftsängste nicht mehr klarsehen lassen oder eine körperliche Stressreaktion uns daran hindert Dinge zu tun, die wichtig sind, dann behindert uns dies effektiv und flexibel in der Gegenwart nach den eigenen Werten und situativ nützlich reagieren zu können.

Steven C. Hayes hat in der von ihm entwickelten Akzeptanz und Commitment Therapie sechs Kernprozesse/Fertigkeiten erforscht, die für nahezu alle Lebensbereiche die psychische Flexibilität erhöhen, um unsere Gedanken, Emotionen und Verhalten zu einem flexiblen Prozess zu lenken.

Fertigkeiten um psychisch flexibler zu werden

1. Kontakt mit dem gegenwärtigen Moment
(im Hier und Jetzt sein)

Kontakt mit dem jetzigen Moment bedeutet, psychisch präsent zu sein und unsere Erfahrung ganz bewusst zu erleben statt auf Autopilot zu schalten oder gedanklich in der Vergangenheit bzw. Zukunft zu hängen. Sich ganz bewusst mit dem zu verbinden, was immer im jeweiligen Moment geschieht, und sich darauf einzulassen.

Psychische Flexibilitaet - jetzt | Irene Rah

Wie ein Leuchtturm können wir ganz flexibel den Fokus unserer Aufmerksamkeit zoomen mal in die psychische Welt in uns, nach außen oder beides gleichzeitig. Wir können den Fokus ganz bewusst weiten oder verengen, je nachdem, was für diese Situation gerade nützlich ist.

Flexible Aufmerksamkeit dem Jetzt gegenüber lernt man durch Übung.

Fragen für die Praxis:

„Ganz bewusst horche ich in mich hinein, was fühle ich?“

„Was löst die Situation in mir aus, was macht es mit mir?“

„Was läuft hier im Außen gerade ab, was beobachte ich?“

2. Gedanken und Emotionen beobachten

Psychische Flexibilitaet - Gedanken beobachten | Irene Rah

Statt sich in Gedanken und Emotionen zu verstricken und sich voll von ihnen einnehmen zu lassen, treten wir einen Schritt zurück und beobachten sie mit einem gewissen Abstand. Wie eine Malerin, die nach paar Pinselstrichen ihr Bild aus einer nützlichen Entfernung betrachtet.

Dies bedeutet aber nicht, dass wir das Wahrgenommene gut finden müssen oder ständig wertschätzend umarmen sollen und auch nicht, dass die belastenden Gedanken und Emotionen bleiben sollen.

Es bedeutet nur sie als das zu sehen was sie sind: aufkommende Gedanken und Emotionen. Nicht mehr und nicht weniger!

Das Beobachten der Gedanken und Emotionen mit einem gewissen Abstand schafft Entlastung und nimmt schwierigen Gedanken und Emotionen die Schwere und die Macht, die sie oft über uns haben.

Ideen für die Praxis:

„Ich spüre Angst“
„Ich spüre wie die Wut in mir aufsteigt“
„Ich fühle mich unsicher“
„Ich habe den Gedanken, dass ich das nicht schaffen könnte“

3. Akzeptanz

Akzeptanz von eigenen Gedanken und Gefühlen: Seinen aufkommenden Gedanken und Gefühlen einen Raum zu geben, sie wertfrei annehmen. Wenn ich mir erlaube, dass meine Gedanken und Gefühle da sein dürfen, kann ich sie auch verändern und zwar in eine Richtung, die für die Situation und für mich gut und nützlich ist.

Psychische Flexibilitaet - annehmen was ist | Irene Rah

Wenn ich aber ständig gegen sie ankämpfe, ihnen quasi ihre Daseinsberechtigung abspreche, bin ich ständig im Kampf und zwar gegen mich selbst.

Wie will ich effektiv auf meine Gedanken und Gefühle einwirken, wenn ich sie insgeheim wegschiebe, davonlaufe, mich ablenke, nicht wahrhaben will und sie eigentlich gar nicht da sein dürften?

Ideen für die Praxis:

„Ich lasse es zu, dass ich jetzt unsicher bin“
„Ach da bist du ja wieder liebe Angst, setz dich zu mir und trinke einen Kaffee mit mir“
„Die Wut steigt in mir auf, dass bedeutet aber noch lange nicht, dass ich gleich ausflippen muss“

4. Das wahrnehmende Selbst

Psychische Flexibilitaet - wahrnehmendes Selbst | Irene Rah

Was würde passieren, wenn wir uns nicht alles glauben, was wir uns über uns selbst erzählen?
Alle Überzeugungen, Annahmen und Gedanken über uns selbst, bilden ein Selbstkonzept, das ist also die Art wie wir über uns denken und was wir von uns selbst halten.
In einigen Bereichen und Situationen im Leben sind wir z.B. sicherer, ängstlicher, besser, kreativer, liebevoller als in anderen.

Annahmen über uns selbst wie z.B. „ich bin immer der Unterlegene“, „ich bin der Größte“, „ich brauche Harmonie“, „ich bin schüchtern“ können somit schnell zu einem starren Käfig werden, welcher unseren Handlungsspielraum eingrenzt.
Aber wie können wir einen neuen Freiraum für die Art, wie wir auf uns schauen, schaffen, um flexibel handeln zu können?
Nehmen wir mal an, jemand fragt dich, was du gerade fühlst. Wenn du dann in dich hineinhorchst, gibt es ein Teil von Dir, welcher fühlt, denkt und wahrnimmt und einen Teil in Dir, welcher die Empfindungen und Gedanken beobachtet. Richtig?
Wichtig ist dabei der achtsame Kontakt mit dem je eigenen Standort, von dem aus wir einerseits alles erleben und von dem aus wir gleichzeitig unser Erleben beobachten.
Wenn wir ganz bewusst die Perspektive zwischen Beobachten und Erleben wechseln können, ist dies eine andere Form des Seins.
Hier verliert das Selbstkonzept an Bedeutung und Macht. In diesem Sein haben wir es nicht nötig, uns ständig von unserem angenommenen Selbstkonzept zu überzeugen, negative Annahmen über uns selbst zu widerlegen oder positive zu verteidigen.
Das eröffnet neuen Freiraum für eine flexible Verhaltensentwicklung.

Tipp für die Praxis:

Nehme öfters die Beobachterrolle ein und horche genau hin.
Du wirst in Abhängigkeit der Situation Unterschiede in der Art, wie du über dich denkst feststellen.

5. Werte, wissen worauf es ankommt

Werte können wir mit einem Kompass vergleichen, der uns die Richtung, in die wir mit unserem Leben gehen wollen, zeigt.
Werte sind handlungsleitend, sie geben uns somit eine Orientierung.
Sie helfen uns zu erkennen, was für uns wirklich wichtig ist.

Psychische Flexibilitaet - Werte | Irene Rah

Sie sind ein wesentlicher Maßstab, um zu entscheiden, welche Handlungen nützlich und hilfreich sind und welche nicht. Heiraten und ein Halbmarathon zu laufen sind Ziele, welche nach dem „Ja“ Wort bzw. nach dem Lauf abgehakt werden können, ein liebevoller Partner oder sportlich zu sein, ist ein fortlaufender Wert.

Die Klärung seiner Werte ist somit ein wichtiger Schritt auf dem Weg in ein sinnvolles Leben.

Nicht alle unser Werte sind immer gleich präsent und wichtig. Stelle dir vor, dass jeder Kontinent für einen Lebensbereich steht und dieser ist mit einem oder mehreren Dir wichtigen Werte besetzt. Im Berufsleben ist dir vielleicht Entwicklung und Erfolg wichtig, im Privatleben Fürsorge und Harmonie. Wenn du nun den Globus drehst bis der Lebensbereich zu dir zeigt, indem du dich gerade befindest, tritt ein Wert in den Vordergrund und ein anderer in den Hintergrund.
Der Wert im Hintergrund ist trotzdem noch da, er hat nur für diese Situation nicht die gleich hohe Priorität.

Werte sind somit ein Kriterium, nach denen wir entscheiden und priorisieren können.

Zentrale Fragen zur Klärung von Werten und Lebensziele

Wofür soll Dein Leben stehen?
Was liegt Dir wirklich am Herzen?
Welche Teile des großen Ganzen sind Dir wichtig?
Was würdest du mit Deinem Leben anfangen, wenn Du nur noch ein oder fünf Jahre zu leben hättest?

6. Engagiertes Handeln (tun, was wichtig ist)

Psychische Flexibilitaet - handeln | Irene Rah

Engagiertes Handeln bedeutet wirksames, wertegeleitetes Handeln. Dazu gehört, was wir mit unserem physischen Körper nach außen hin sichtbar tun und auch psychisches Handeln, was wir mit unseren Gedanken und Emotionen tun.

Wenn wir nur auf den Kompass schauen und wissen was uns wichtig ist, kommen wir nicht weit.

Wir müssen aktiv handeln, um uns in die gewünschte Richtung zu bewegen.

Engagiertes Handeln bedeutet also, „tun, was wichtig ist“, um im Einklang mit unseren Werten zu leben – selbst dann, wenn es schmerzlich und unangenehm ist.
Dies hat aber nichts mit „aushalten müssen“, Schweinehund oder „genug Willen“ zu tun.
Es geht darum, sich dem, was schmerzt mitfühlend zuzuwenden.
Ein Beispiel soll dies verdeutlichen.

Wenn wir z.B. im Stress ein Gefühl von Druck oder Anspannung spüren und daraufhin essen oder rauchen, um die Anspannung zu reduzieren, dann weichen wir dem schmerzlichen, unangenehmen Gefühl aus. Die Anspannung ist durch das Essen bzw. Rauchen kurzfristig reduziert, kommt aber in der nächsten belastenden Situation geballt wieder. Sich dem Schmerz zuwenden bedeutet nicht davonzulaufen, sondern sich der Anspannung mitfühlend zuwenden und das tun, was wirklich für diese Situation nützlich ist.

Druckgefühl, Anspannungen, Sorgen, Glaubenssätze, innere Antreiber, usw. lösen sich durch Essen oder andere Vermeidungstechniken nicht auf. Nein, ganz im Gegenteil. Sie kommen verstärkt wieder, wenn man sie nicht beachtet.

Nützlichkeitsfrage in einer bestimmten Situation:

„Wird mich dieses Verhalten/Handlung meinen Werten näherbringen oder mich weiter von ihnen entfernen?“
„Welches Gefühl möchte ich vermeiden? Was kann ich nicht mehr aushalten? Was brauche ich eigentlich wirklich?“
„Welches Bedürfnis ignoriere ich hier gerade?“
„Welches Bedürfnis möchte erfüllt werden?“

Fazit:

Sich seinen Gefühlen und Gedanken öffnen, das Bewusstsein erhöhen und nach seinen Werten engagiert und flexibel handeln, um auf eine langfristig gesunde und erfüllende Weise zu leben.